Die Gründergeneration(en) bei einem Richtfest in den 1920er-Jahren© Erbbau-Genossenschaft Kassel

Geschichte

Ein kurzer Überblick über mehr als 100 Jahre Erbbau-Genossenschaft Kassel, von den Anfängen bis heute und weiter.

Die Situation am Anfang des 20. Jahrhunderts

Die Gründung der Genossenschaft fiel in eine Zeit größter Wohnungsnot, hervorgerufen durch die rasch wachsende Einwohnerzahl seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. In dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg waren dadurch die Bodenpreise derart gestiegen, dass die Mieten in Neubauten für die meisten Menschen nicht zu bezahlen waren.
Durch den Zusammenschluss in Genossenschaften suchten Bürger*innen deshalb von den Kommunalverwaltungen Baugrund zu Siedlungszwecken zu erhalten und gemeinsam das notwendige Kapital aufzubringen.
Auch die Stadt Kassel förderte solche Unternehmungen gern auf der Grundlage des Erbbaurechts, weil so der dringend notwendige Wohnungsbau den Folgen der Spekulation entzogen werden konnte.

1919 – Gründungsakt und schwierige Anfänge

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Einladung zur Gründungsversammlung am 21.3.1919

Vor diesem Hintergrund riefen städtische Angestellte, Beamt*innen und Lehrer*innen am 21. März 1919 die Erbbau-Genossenschaft ins Leben. Zu den 107 Gründer*innen kamen im Fortgang des Jahres weitere 200 Mitglieder hinzu, womit auch die soziale Zusammensetzung vielfältiger wurde.

Im November 1920 schloss die Erbbau-Genossenschaft dann mit der Stadt einen Pachtvertrag über das große feuchte Wiesengelände bei Kirchditmold ab, das im Volksmund „Husarenwiese“ hieß, weil es einst den landgräflichen Husaren als Weide gedient hatte, das aber amtlich den Flurnamen Riedwiesen trug.
Im Norden Kassels konnte die Genossenschaft auf dem Gelände der von der Stadt zuvor erworbenen Staatsdomäne Fasanenhof, zugleich mit drei anderen Baugenossenschaften, Grundstücke pachten.

Ans Bauen war vorerst jedoch nicht zu denken. War der Wohnungsbau schon während des Krieges zum Erliegen gekommen, so verhinderten nach dem Krieg bis in das Jahre 1924 hinein ein akuter Materialmangel und die Auswirkungen der großen Inflation, mit den Planungen und Baumaßnahmen tatsächlich zu beginnen.

Die Bauphasen – Fasanenhof und Riedwiesen

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Entwurfszeichnung von Giebelansichten der Riedwiesen-Häuser von Hans Soeder – Thema und Variationen.

Nach der Überwindung der Inflation und mit dem Erstarken der Wirtschaft konnte man ab 1924 an konkrete Planungen gehen. Von genossenschaftlichem Gemeinsinn geprägt waren Eigenleistung und Kooperation der Mitglieder wichtige Faktoren während der dann folgenden Bauzeit. 

Die Gebäude der Genossenschaft am Fasanenhof wurden in drei Phasen von 1926 bis 1930 fertiggestellt.
Die Bebauung des Riedwiesen-Geländes erfolgte im Wesentlichen in sechs Bauabschnitten im Zeitraum von 1925 bis 1938.

Die Riedwiesensiedlung, errichtet nach den Plänen des Architekten und Direktors der Kunstakademie Kassel, Prof. Dr. Hans Soeder, gilt heute als eines der bedeutsamen Architekturdenkmäler Kassels. Als erkennbares Zeugnis des Neuen Bauens in den 1920er Jahren hat die Siedlung mit ihrem Gartenstadtcharakter ein auch heute noch ganz eigenes Flair.




Frühe Ansicht der Riedwiesensiedlung, im Hintergrund die Kirche Kirchditmold.© Erbbau-Genossenschaft Kassel
Frühe Ansicht der Riedwiesensiedlung, im Hintergrund die Kirche Kirchditmold.

Naziherrschaft, Krieg und Nachkrieg

Es ist überliefert, dass in den Jahren nach 1933 in der Riedwiesensiedlung jüdische Genossenschaftsmitglieder und ihre Familien auch vor Ort so drangsaliert wurden, dass sie sich zur Flucht gezwungen sahen und Deutschland verließen.
(Siehe dazu: 2024 – Stolpersteine für die Familie Katzenstein)

Im Zweiten Weltkrieg dann verloren in beiden Erbbau-Siedlungen zahlreiche Menschen ihr Leben.
Viele Häuser erlitten Zerstörung oder Beschädigungen, konnten jedoch in den Nachkriegsjahren repariert bzw. wieder aufgebaut werden.

Bis zum Jahr 1951 gelang es der Genossenschaft, das seit Mitte der 20er Jahre auf den Grundstücken liegende Erbbaurecht durch Kauf abzulösen, womit sie auch Eigentümerin der Liegenschaften wurde.

Bis heute …

Ende der 80er Jahre wurden beide Siedlungen der Genossenschaft als Ensembles weitgehend unter Denkmalschutz gestellt. Ein recht ursprünglich erhaltenes Haus in den Riedwiesen genießt den Schutz als Einzeldenkmal.

Anfang der 2000er-Jahre beginnen Maßnahmen zur energetischen Sanierung der Gebäude und werden in den folgenden Jahren kontinuierlich fortgeführt.

Im Jahr 2017 erweitert die Genossenschaft mit der Fertigstellung und dem Erstbezug eines Neubaus für seniorengerechtes Wohnen in den Riedwiesen das generationengerechte Wohnungsangebot für Ihre Mitglieder.

2019

Mit Festakt und großem Straßenfest begehen die Mitglieder, Bewohnerinnen und Bewohner zusammen mit zahllosen Gästen 2019 das 100-jährige Jubiläum der Erbbau-Genossenschaft. Es wird gefeiert und getanzt bis in die späte Nacht.

In Zukunft

2023/24 wurde die Erstellung eines Integrierten Energetischen Quatierskonzepts für die Riedwiesen-Siedlung betrieben, dessen Ergebnisse auch für die Häuser am Fasanenhof fruchtbar gemacht werden sollen.
Fast genau 100 Jahre nach dem einstigen Planungs- und Baubeginn soll damit ein Neustart in eine umfassend energetisch erneuerte und klimagerechtere Zukunft des Wohnens und des Lebens in der Erbbau-Genossenschaft angegangen werden.


Dieser Text beruht zu großen Teilen auf den Beiträgen „Wie alles anfing“ von Walter Klonk und „Die Genossenschaft und ihre Wohnsiedlungen“ von Alfred Leiding in den Festschriften zum 100-jährigen bzw. zum 75-jährigen Jubiläum der Erbbau-Genossenschaft.

Downloads:
Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum der Erbbau-Genossenschaft Kassel