Lebendige Nachbarschaften

Einstmals wie heute prägt das nachbarschaftliche Miteinander das Leben in unserer Genossenschaft, ob am Fasanenhof oder in der Riedwiesensiedlung.

Ein besonderes Beispiel dafür ist der »Sauerkrautverein«, ein Kreis von Nachbarinnen in der Riedwiesensiedlung, der ab 1944 für etwa 30 Jahre bestand. An diese Geschichte anknüpfend und unter dem gleichen Namen, hat sich vor einigen Jahren ein neuer Nachbarschaftskreis gebildet, der Veranstaltungen wie »Neujahrsspaziergang«, »Frühstück auf der Straße«, »Apfelsaft mosten« oder »Lebendiger Adventskalender« organisiert. Siehe dazu den Text Sauerkrautverein 2.0 unten auf dieser Seite.

Im Rahmen unseres Zukunftsprojekts gründet sich der »Sauerkrautverein 3.0« als Arbeitsgruppe Lebendige Nachbarschaft neu – zum Auftakttreffen der AG am Mittwoch, den 13.09.2023 sind alle an der Mitarbeit Interessierten herzlich eingeladen:   Einladung    Nächster Termin im Nov.


Am Anfang war …

Der Sauerkrautverein

Es begann 1944 mit einem Krauthobel. Dieser gehörte dem vielseitigen Alt-Kirchditmolder Haushaltswarengeschäft Trinkaus. Man konnte den Hobel ausleihen gegen ein geringes Entgelt, mußte aber jedenfalls den Weg aus den Riedwiesen ins »Dorf« Kirchditmold und zurück auf sich nehmen und den nicht ganz leichten Hobel tragen.

Ein Kreis von Nachbarinnen traf sich regelmäßig am Dienstagabend, seit durch die Zerstörung Kassels der gemeinsame Weg zur Übungsstunde der »Singgemeinde« ausfiel. In Waldau hatten wir bei freundlichen Bauern das Kraut geholt, was damals nur durch persönliche Beziehungen möglich war, und hatten beschlossen, dass es von allen am gleichen Tage, Haus für Haus, eingehobelt werden soll. Als dies bei Beckers, Riedwiesen 46, und bei Hoffmanns, Geröderweg 16, bereits geschehen war, kam der Hobel zu Neubauers, Geröderweg 22. Aber Frau Neubauer, damals schon ehrenamtliche Leiterin der Kirchlichen Frauenarbeit in Kassel, hatte an diesem Tag eine wichtige Besprechung in ihrem Wohnzimmer. Was tun? Das Fass stand in der Küche bereit, also schritten die Nachbarinnen zur Tat und hobelten nach Kräften. Auch Nachbar Becker kam zur Unterstützung herbei. Um ihn zu recht kräftigem Stampfen des Krauts anzufeuern, nannte man ihm Leute, die er sich in dem Fass sitzend vorstellen sollte, zum Beispiel den Reichspropagandaminister Goebbels. Sofort stampfte Herr Becker in seiner Wut recht viel Saft aus dem Kraut, wie es richtig ist. Nach beendeter Besprechung fand Frau Neubauer ihr Fass gefüllt. Voll Dankbarkeit sagte sie: »Ich muß doch diesen ganzen Sauerkrautverein mal einladen«, und der Name war da.

Zu unserem Kreis gehörten von Anfang an noch Frau Askevold, Geröderweg 21, und Frau Schmidt, Geröderweg 23. Man stopfte die Wäsche und die Strümpfe der Familie. Die Strümpfe bestanden fast nur aus »Stopfe« und zwar in den abenteuerlichsten Farben, je nach dem Garn, das sich noch in den Haushalten fand oder irgendwie aufribbeln ließ.

Nachdem 1944 endlich der Bunker im Lindenberg fertig war, traf man sich fast allnächtlich dort. Wenn schon alle Schutzsuchenden im Stollen waren, hörte man noch draußen Gerumpel: Erich Hoffmann, Riedwiesen 39, brachte im schweren Handwagen seine kranke Mutter. Die steile Kleebreite hinauf half regelmäßig Frau Wagner, Riedwiesen 40, mit starken Kräften schieben. Sie war überhaupt ein Vorbild an Hilfsbereitschaft und sorgte mit ihrem Humor für manch befreiendes Lachen. Man lernte sich kennen und schätzen. So beschloss der Sauerkrautverein, SKV abgekürzt, auch sie und Frau Kirchner (Am Hange 31) in unseren Kreis einzuladen. Das war eine große Bereicherung. Als letzte kamen noch die Studienrätin Dr. Roloff und die aus Ostpreußen gekommene Frau Trautmann, beide zuerst Riedwiesen 30, dann Kleebreite 14, dazu.

Weil inzwischen die NS-Herrschaft vorbei war und wir Deutschen wieder Zugang zur außerdeutschen Geisteswelt hatten, wurde viel englische und französische Literatur gelesen und besprochen. Der SKV war aber durchaus kein elitärer Literaturkreis, sondern das, was man früher schlicht als »Kränzchen« bezeichnet hätte. Man besprach auch seine häuslichen Sorgen, überlegte, wie man zusätzlich zu den kargen Zustellungen etwas für die Familie beschaffen konnte, und half sich gegenseitig. Von einer kleinen Portion Schmalz, die an Frau Neubauer gekommen war, bekam jeder einen Esslöffel voll. Da schwammen dann auf den bescheidenen Eintöpfen der Familien am nächsten Tag einige Fettaugen! In Frankenberg, wo meine Schwester wohnte, gab es ohne Marken ein Molkeprodukt, Albu genannt, zu kaufen. Da fuhr öfter jemand hin und holte eimerweise das kostbare Essgut, das dann treu im SKV geteilt wurde. Die je vier Stunden Bahnfahrt hin und zurück wurden halt in Kauf genommen.

Der Sauerkrautverein feiert Fasching© Erbbau-Genossenschaft Kassel
1958 – der Sauerkrautverein feiert Fasching – hier: Frau Trautmann, Frau Wagner, Frau Kirchner

Gern gewöhnte man sich dann an die langsam besser werdenden Zeiten. An den SKV-Abenden gab es nun echten Tee zu trinken, zunächst noch von Freunden oder Verwandten aus England und USA geschickt, später auch in unseren Geschäften Schmoll und Grashoff käuflich.

Etwa dreißig Jahre hat dieses ungewöhnliche »Kränzchen« bestanden. Die noch lebenden Teilnehmerinnen denken gern an diese Zeit in den schönen Riedwiesen zurück.

Text von Irmgard Hoffmann, aus: Festschrift der Genossenschaft zum 75jährigen Jubiläum, 1994 (siehe unter: Downloads)

Sauerkrautverein 2.0

In Vorbereitung der Festschrift zum 100. Genossenschafts-Jubiläum tauchten in den Interviews mit den ältesten Riedwiesen-Bewohner:innen immer wieder die Aktivitäten des Sauerkrautvereins auf. Die Freude über die Lebendigkeit dieser Runde von Frauen, die auch über die gegenseitige Unterstützung hinaus ihre Gesellschaft pflegten und in die Nachbarschaft wirkten, entstanden bei Viola Jäger und Julia Zimmermann die Idee, diese Tradition wiederzubeleben.
Gesagt, getan: Zwei weitere Frauen wurden gefunden, ein Wimpel genäht und beim ersten Treffen auf das gemeinsame Vorhaben angestoßen. Beim Jubiläumsfest wurden die Ideen vorgestellt und zu einem Spiel „Wer wohnt wo?“ eingeladen. Das zukünftige Verbreitungsmedium, ein E-Mail-Verteiler, füllte sich rasch mit Interessent:innen.

Die Idee:
Im Jahresverlauf mit unaufwendigen Impulsen die Nachbar­schaft auf die Straße locken und damit Gemeinschaft stiften.

So etablierten sich in den vergangenen Jahren wiederkehrende Einladungen
• zum Neujahrsempfang – bzw. pandemiekonform: zum Neujahrsspaziergang – zur weiteren Ideensammlung
• im Frühsommer: Frühstück auf der Straße
• im Herbst: gemeinsames Apfelsaftpressen
• und im Winter: Adventsliedersingen am Nikolausabend im Bürgereck.
Daneben ergaben sich Tanzfeste auf der Kreuzung, Treffen zum Weintrinken, Strickabende in verschiedenen Wohn­zimmern, Spieleabende, ein lebendiger Adventskalender etc.